Das Sprachrohr der Mächtigen zu Kassel – Ein Beitrag von Birgit Sauer zum Extra Tip und Rainer Hahne

Mindestens die älteren Nordhessen werden sich an Klaus Becker (1944-2010) erinnern, den Chefredakteur des Extra Tip. Seine legendären Kommentare wurden von vielen gelesen und geschätzt. Gefürchtet wurden sie vor allem vom regionalen Establishment, den hiesigen Gralshütern des Zeitgeistes. Treffsicher in der Argumentation, unterhaltsam in der Polemik – das war das Erfolgsrezept seiner Kommentare, denen man nie vorwerfen konnte, lau und langweilig zu sein. Er konnte auf prägnante Weise an sich banale Weisheiten ausdrücken, die sonst kein Journalist zu denken wagte: „Es gibt Stammtische, da wird intelligenter diskutiert als in manchen Lehrerzimmern“, das ist nur eine davon.

Deutlich war Klaus Beckers Verbundenheit mit den „kleinen Leuten“, die mit ihrer Arbeit ein System unterhalten „dürfen“, das ihnen jeden Tag neue Zumutungen auferlegt. Er verstand ihre Ängste, anstatt sich über sie zu erheben. Seine Gegner hat er stets auf Augenhöhe gesucht. Wenn man Klaus Beckers journalistisches Credo darstellen wollte, müßte man wohl an seinen Auftritt vor mehr als 20 Jahren in den Lagerhallen von Willi Waldhoff erinnern, bei einer Diskussionsveranstaltung über die nordhessischen Lokalmedien. Unter dem tosenden Applaus der Zuhörer berichtete er von seinen persönlichen Erlebnissen in der Tram, wenn asoziale Gestalten darin eine Atmosphäre erzeugen, die den schweigenden Rest in Bedrückung versetzt. Diese Angst in Worte zu fassen und öffentlich zu machen, sah er als die vordringlichste Aufgabe des Journalisten an. Das Gefühl der Zuhörer, es gibt eine Einheitspresse, die bestimmte Realitäten ausblendet, war bereits damals an diesem Abend greifbar, also lange bevor das Schlagwort von der “Lügenpresse” aufkam. Als Journalist war Klaus Becker stets engagierter Anwalt jener Bürger, die sich mit ihren Ängsten und Sorgen von den Medien allein gelassen fühlten. Der Lohn war der „Adelsschlag“ durch die Süddeutsche Zeitung, die ihm bescheinigte, den Extra Tip zum meinungsbestimmenden Medium Nordhessens gemacht zu haben, bis weit ins Bürgertum hinein!

Heute, rund sieben Jahre nach Klaus Beckers Tod, müssen wir feststellen, daß es keinem seiner Nachfolger gelungen ist, seine Rolle als „Sprachrohr des kleinen Mannes“ einzunehmen. Stattdessen haben unter dem heutigen Chefredakteur Rainer Hahne Anbiederung an die Mächtigen und Anpassung an den Mainstream Einzug gehalten in die Kölnische Straße 16. Peinliche Briefwechsel aus einer Filterblase erzählen dem Leser Märchen wie aus Disneyland. Die Leserschaft herabsetzend mit ihren Sorgen darin als „Angsthasen“ verhöhnt. Wo Andersdenkende als „Nazis“ und „Irre“ stigmatisiert und in die schlimmste denkbare Ecke gestellt werden. Mit anderen Worten: Klaus Beckers publizistisches Erbe ist restlos verspielt worden.

Es vergeht kaum eine Ausgabe des Extra Tip, die nicht die Schwächen im Argumentationsmuster seines Chefredakteurs unter Beweis stellt: Löchrig wie ein Schweizer Käse und diese Löcher so groß, daß ein LKW hindurchpasst. So wollte Herr Hahne in den afrikanischen Flüchtlingen „halbverhungerte Menschen“ sehen, im Gegensatz zu jenen, die stattdessen von Wirtschaftsflüchtlingen „faselten“ („Wirtschaft im Wandel“ vom 8.11.2017). Und doch kennt jeder die Bilder von den kräftigen Burschen, die ausgestattet mit Mobiltelefonen aus den Schlauchbooten in die Fährtaxis der EU und der NGOs zur Weiterfahrt in das scheinbare Wohlstandsparadies Europa steigen.

In „10.000 Fernsehtote pro Jahr“ (15.11.2017) wartete Hahne unter Berufung auf den umtriebigen Kriminologen Christian Pfeiffer mit einer ganz steilen These auf: Deutschland als sicherer Ort für Frauen. Die vielen Opfer der Kölner Silvesternacht werden das mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen. Aber auch überall anderswo in Deutschland, wo man seit der Merkelschen Einladung an alle Welt mit Massen von jungen, muslimischen Abenteurern und ihrem ganz eigenen Frauenbild und einer von uns verschiedenen Gewaltsozialisation konfrontiert ist. Zur Erinnerung: Pfeiffer ist der gleiche „Experte“, der im Medienskandal von Sebnitz (2000) einen rechten Mob am Werk sah.

Geradezu kurios wurde es aktuell in „Drohungen und Hetze“ (27.1.2018), worin er Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble darin zu bestärken suchte, die Würde des Parlaments gegen die “Nazis” der AfD zu bewahren. Die Würde dieses Hauses war hingegen lange vorher schon schwer beschädigt, bevor man ausgerechnet mit Schäuble einen der größten Polit-Gauner zu seinem Vorsteher wählte. Im Gegensatz zu Hahne haben viele andere dessen Rolle in der CDU-Spendenaffäre nicht vergessen. Da hat man wahrhaftig den Bock zum Gärtner gemacht. Hätte nur ein AfD-Parlamentarier so viel Dreck am Stecken wie „Koffer-Schäuble“, Hahne würde vermutlich hysterisch Zeter und Mordio schreien. Es wäre im Übrigen lohnenswert, diesen Artikel im Hinblick auf die darin enthaltenen beleidigenden Formulierungen auf seine justiziable Relevanz zu überprüfen.

Verzerrungen, einen merkwürdigen Bezug zur Realität – es finden sich hierfür haufenweise Beispiele in der ET-Kolumne des Chefredakteurs, die sich „Briefwechsel“ nennt. Doch am auffallendsten ist die Weigerung Hahnes, offensichtliche Fakten anzuerkennen. Aus der Psychologie kennt man den Mechanismus der Kognitiven Dissonanz. Dies ist die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, den Widerspruch zwischen den eigenen Wertvorstellungen und der ihnen widersprechenden Realität so zu neutralisieren, daß die eigene Echokammer unangetastet bleibt. So schreibt Hahne eine nicht allein aus der Rückschau als peinlich zu bezeichnende Ergebenheitsadresse an den frisch gekürten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz und reiht sich damit ein in die Mainstreamjournaille, die Schulz wie einen Adler nach oben zu schreiben sucht. Schulz-Kritiker aus den alternativen Medien werden begründungsfrei als „Hetzer“ diffamiert („Der Wahlkampf wird heiß“, 6.2.2017).

Rund ein Jahr und eine für die SPD verlorene Bundestagswahl später: „Der reichste Kanzlerkandidat aller Zeiten“ ist als Brathuhn hart gelandet, der Spiegel veröffentlicht eine Reportage aus direkter Nähe, die Schulz als in seiner Rolle vollkommen überforderten Politiker entlarvt, der sich über den ganzen Wahlkampf hinweg der Aussichtslosigkeit seines Ziels bewußt war. Aller Welt wird vorgeführt, daß Schulz von Anfang an die falsche Wahl war, seine Karriere am Ende und es fraglich ist, ob er die von ihm mitverhandelte Große Koalition politisch überlebt. Doch statt den Lesern gegenüber selbstkritisch seine eklatante Fehleinschätzung einzugestehen, hält Hahne stur und unbeirrt an seinem idealisierten Schulz-Bild fest und bemüht die Metapher eines „Propheten, der von seinen Jüngern verlassen wurde“ („Insel der Seligen“, 24.1.2018).

Was ist es, daß jemanden wie Hahne antreibt, mit missionarischem Furor getränkte Artikel zu publizieren, die ihren Urheber zum „Sprachrohr der Mächtigen“ machen? Ist es die Lust an der Provokation gegenüber jener Leserschaft, mit der sich ein Rainer Hahne nicht gemein machen will? Oder ist es Gefallsüchtigkeit gegenüber der Elite? Gewiß, ein Journalist muß hier stets gut vernetzt sein und darf doch die Leser in ihren Wirklichkeitserfahrungen und ihren Interessen nicht aus dem Blick verlieren. Wenn einem Journalisten die aus diesen Netzwerken geknüpften Freundschaften zum Establishment wichtiger werden als die Bindung zum Leser, geht das zwangsläufig auf Kosten seiner Glaubwürdigkeit. Wer es übertreibt, wird am Ende nicht mehr ernst genommen. Schlimmstenfalls gießt man so Öl ins Feuer und muß sich so die Vergiftung der Atmosphäre anrechnen lassen. Für viele in Kassel ist der Extra Tip die einzige Zeitung, einfach weil sie sich keine andere leisten können oder wollen. Lohnt es sich da wirklich, diesen Menschen zweimal die Woche derart vor den Kopf zu stoßen?

Doch wie nahe er dem Establishment steht, Rainer Hahne muß sich immer eines vor Augen halten: Egal wie servil er diesen Kreisen ergeben ist, er wird immer nur der oberste Lohnschreiber eines Anzeigenblatts aus der nordhessischen Provinz sein, der noch nicht einmal von sich behaupten kann, daß die Leute Geld dafür bezahlen würden, um seine Texte zu lesen.